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曉東, 走開! - Xiǎodōng, zǒu kāi! Wie ein Feuer brannte sich dieser Satz in mein Gedächtnis, ein Überbleibsel aus einer Kindheit, die für viele als traumatisch angesehen werden würde. Doch ich lernte damit umzugehen, ich konnte es ohnehin nicht ändern. War es dieses Mal mein Onkel, der mich von seinen guten Vasen wegscheuchte, so war dieser Satz für mich zumeist mit Gewalt und Schmerzen verbunden, Disziplin aneignen nannte man es hier. Ich erhaschte also einen schnellen Blick auf Onkel Li's wertvolle Ming-Vasen und machte mich zurück an die Arbeit.
Zwei Tage später feierte ich meinen 17. Geburtstag, zugegeben sollte es ein fröhlicher Tag werden, aber nach feiern war mir heute nicht zumute. Vorgestern Abend hatte ich einen heftigen Streit mit meiner Freundin Shuai und seitdem ignorierte sie meine SMS und Anrufe. Zugegeben, es war nicht einfach, sie war 5 Jahre älter als ich, studierte in Shanghai und kam immer nur für kurze Zeit in meine, unsere Geburtsstadt, Sanchengxiang, westlich von Nanjing, die knapp 350 Kilometer Entfernung ließen das an einem normalen Wochenende auch nicht zu. Auch wenn wir erst seit knapp 7 Monaten ein Paar waren, merkte ich, wie sie die Großstadt veränderte und sie sich immer mehr distanzierte, anfangs sprachen wir täglich, mittlerweile war sie unter der Woche nur 2 Mal zu kurzen Gesprächen zu erreichen und am Wochenende meistens gar nicht. Sie verstand es nicht, warum ich nicht mit ihr nach Shanghai gegangen war, sondern es vorzog, hier zu bleiben und dieses Leben weiter zu führen. Doch auch wenn es nicht das ist, was man unter einem schönen Leben verstand, ich kannte nichts anderes, war bei meiner Familie und hatte ein Dach über dem Kopf und zu essen. Und ich konnte meiner Leidenschaft, dem Fußball nachgehen. Mein Zeitplan hatte zumeist nur kleine Lücken, ich stand morgens um 5 Uhr früh auf, half meinem Vater die Kühe zu melken, fütterte die Schafe und trieb mit meinem Vater zusammen die Kühe auf die Weide. Dort hatte ich unter einem Baum ein klappriges altes Fahrrad abgesperrt, mit welchem ich im Anschluss in die Schule radelte. Bis 3 Uhr nachmittags war ich dann dort, lernte, sprach mit meinen Freunden und trainierte. Seit 4 Jahren ging ich nun auf diese Schule, es war eine gut angesehene Sportschule, dort hoffte ich, meinen Traum, Profifußballer zu werden, verwirklichen zu können. Bevor es aber so weit war, hieß es nach der Schule wieder mit dem Rad zum Baum, die Kühe alleine zurück zu unserem Hof zu bringen und dann holte mich mein Onkel ab, dem ich bei der Ernte half. Er baute alles selbst an, Mais, Getreide, Gemüse, Obst und vieles mehr, es war wie ein großer Supermarkt, den meine Familie ganz alleine betrieb. Weiters hatte er noch einen großen Fischteich, den er mir zu meinem 10. Geburtstag 'geschenkt' hatte, ich kümmerte mich gerne darum und da er von der Scheune oder dem Haus nicht einsehbar war, war es auch eine willkommene Abwechslung, an heißen Sommertagen schnell mal hinein zu springen und sich etwas abzukühlen. Bis spät abends, als es schon dunkel war, arbeitete ich, meine Hausaufgaben, es war niemals viel, erledigte ich in den kurzen Pausen dazwischen. 2 Mal unter der Woche und am Wochenende erlaubte mir mein Vater, mich zum Fußballtraining abzumelden, ich spielte in der Jugend von Jiangsu Suning, dem städtischen Verein.
Hier wollte ich einmal spielen, im Nanjing Olympic Stadium, wo die erste Mannschaft von Jiangsu Suning in der CSL ihre Spiele absolviert.
Ich sah beinahe jedes Spiel unseres Teams, mein Vater war ein großer Fan des Vereins und das war mein Glück, sonst würde er vermutlich meinen Traum, Profifußballer zu werden, nicht unterstützen und meine Laufbahn als Erntehelfer wäre quasi vorbestimmt gewesen. Mit meinem Vater hatte ich nicht nur dank des Fußballs einen guten Draht, er unterstützte mich dabei und motivierte mich weiter hart zu trainieren, auch wenn ich so wie momentan keine große Lust verspürte und traurig war. Allerdings war mein Lieblingsverein nicht Jiangsu, was ich natürllich streng geheim hielt. Mein Vater prägte den Satz, dass man 'im Wettkampf die Emotionen und schlechte Gedanken ausblenden muss', schafft man das, kann man es weit bringen, den eisernen Willen, den hätte er mir vererbt. Meine Mutter war sehr streng und es gefiel ihr gar nicht, dass ich Fußballer werden wollte, weshalb ich früher oft mit ihr in Streit geriet und in Folge oft von ihr oder meinem Vater gezüchtigt wurde. Doch er erkannte, dass das nicht nur eine Phase war, wo ich alles ausprobieren wollte, sondern, dass es mir wirklich ernst war. Damals war ich 11, ich hatte bereits Jahre verpasst, um ernsthaft mit dem Fußballspielen im Verein azufangen und hatte Angst, hinterher zu hinken.
Eine weitere Woche war vergangen und ich hatte noch immer nichts von Shuai gehört. Kurzerhand beschloss ich, meine wichtigsten Sachen zu packen und nach der Schule mit dem Zug nach Shanghai zu fahren um eine Antwort von ihr zu bekommen. Ich wusste, dass ich großen Ärger bekommen würde, weil ich nach der Schule nicht wie vereinbart die Kühe nach Hause brachte, aber ich wollte Gewissheit. Ich wollte Klarheit, ob es sich noch lohnte, um die Liebe zu kämpfen, oder ob die Mühe dafür nur noch verschwendete Zeit war. Mit meinem letzten gespartem Geld kaufte ich mir ein Ticket, ohne zu wissen, wie ich die Heimfahrt finanzieren sollte, doch daran hatte ich noch keinen Gedanken verschwendet, ich musste zu Shuai. Am Bahnhof hatte ich Glück, als ich einen Mann kennen lernte, der das Trikot meines Lieblingsvereines trug und ich konnte nicht glauben, was ich auf der Rückseite erblickte. Schnell unterhielten wir uns, er erzählte mir, dass er fast täglich nach Shanghai pendelte und man mit dem High-Speed-Train nur etwas mehr als eine Stunde brauchte. Ein Schlag ins Gesicht für mich, ich hatte immer damit spekuliert, dass es viele Stunden dauert, um nach Shanghai zu gelangen und das der Grund war, dass Shuai nicht an den Wochenende kommen konnte. Der Mann lud mich ein, mit dem High-Speed-Train zu fahren, er bezahlte mein Ticket und gab mir zudem mehr als genug Geld, um mir ein Ticket für die Rückfahrt zu kaufen. Als der Zug einfuhr, kam ich mir vor, als hätte man mich in eine komplett andere Welt entführt, Nanjing hatte zwar ein modernes Zentrum, da wir aber außerhalb der Stadt lebten und die Schule auch nur am Stadtrand lag, bekam ich davon nicht allzu viel mit, ich hatte schlicht keine Zeit, einmal die Stadt zu erkunden. Ich stieg die 3 Stufen hoch, meinen kleinen Rucksack auf dem Rücken und blickte in das futuristische Innen des Zuges. Es hatte Ähnlichkeit mit Zügen aus Deutschland, wie ich sie von Fotos kannte, aber nie hätte ich gedacht, dass wir so etwas in unserer Nähe hatten.
Kaum mehr als eine Stunde dauerte die Fahrt nach Shanghai und mit Geschwindigkeiten jenseits von 300 km/h rumorte es in mir, ich war dieses Tempo nicht gewohnt und mir wurde flau im Magen. In Shanghai angekommen staunte ich über die gewaltige Skyline, die mir beim Blick aus dem Fenster ins Blickfeld fiel, als der Zug langsam Richtung Bahnhof fuhr. Es war gewaltig, Wolkenkratzer standen Seite an Seite mit anderen gewaltigen Bauten. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und konnte den Mund vor Staunen nicht schließen, doch ein großer Zug des frischen Smogs, welchen ich einatmete, als der Zug seine Türen öffnete, holtemich auf den Boden der Tatsachen zurück, dass auch das Shanghai war. Um mich herum füllte sich der Bahnsteig, Tausende Menschen mit Schutzmaske vor Mund und Nase passierten mich, als ich wie in Trance im Kreis um mich blickte. Der Bahnsteig hatte sich geleert, als ich hastig in meiner Hosentasche kramte und einen kleinen Zettel entknitterte. Es war der letzte Brief, den mir Shuai schrieb und ganz unten fand ich ihre Adresse, hierhin würde mich also nun mein Weg führen........
Quellen: Nanjing Olympic Stadium, Zug, Zettel mit chinesischen Zeichen
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