Gastbeitrag #1: Ultrà - Curva A, SSC Napoli & Italien
Es gibt im modernen Fußball kein Thema, welches so dermaßen polarisiert und die Meinungen spaltet wie "Ultrà". In Deutschland zählt das Thema längst schon bundesweit und auf politischer Ebene ziemlich oft in Gebiete gleichgesetzt mit Terrorismus. In Italien gilt diese Praxis sogar schon weitaus länger, obwohl der italienische Stiefel das erkorene Mutterland der Ultra-Bewegung weltweit ist. Um das Thema, gerade im Bezug auf die italienische Kultur nicht nur zu verstehen, sondern auch nachvollziehen zu können, benötigt es einen tieferen Einblick, vor allem in die Geschichte und Entwicklung von Calcio in Italien.
Um die ersten Wurzeln dieser Bewegung zu finden, muss man mittlerweile schon knappe 70 Jahre zurückblicken, gab es bereits Ende der 50er-Jahre und insbesondere dann in den 60er-Jahren die ersten offiziellen Gruppierungen, die ihrem Verein mehr als nur stille Anwesenheit im Stadion schenken wollten. Die emotionsgeladenen Tifosis brauchten mehr: es sollten Stilmittel eingebaut werden, um den elf Göttern auf dem Rasen gerecht zu werden. So fanden sich in Städten wie Turin, Mailand, Genua die ersten Gruppierungen wieder, die Schritt für Schritt auf sich aufmerksam machten mit Zaun- und Schwenkfahnen, Trommeln und Megafonen und vor allem teilweise exzessiven Gebrauch von Signal- und Rauchfackeln sowie den heute aus dem Fußball nicht mehr wegzudenkenden Choreographien – damals natürlich noch im kleineren Stil, oftmals mit simplen Pappen oder Papierschnipseln. Aus diesem Ursprung kommt auch das heute dafür angewendete Wort „Tifo-Material“.
Zur Bewegung lässt sich kein wirklicher Gründervater veräußern, gibt es aus dieser Zeit natürlich nicht genug Material, welches eindeutig darauf hinweist, welche Gruppe den offiziellen Startschuss gegeben hatte. Prägend waren aber die oben erwähnten Städte.
Wie sich die Zeit entwickelt, schwappte die Entwicklung natürlich auch auf die kleineren Städte des Landes über, sodass mittlerweile bis in die Tiefen des italienischen Fußballs so gut wie jeder Verein mehr oder wenige starke Gruppierungen auf den Tribünen hat. Da die Gruppen mit der Zeit auch immer mehr Anklang gefunden hatten, wurden diese immer größer – Drughi Juventus zählte teilweise um die 10.000 Mitglieder – aber auch ihre Bedeutung für und im Verein wurden immer größer. Gerade anhand des Beispiels Juventus Turin lässt sich sagen, dass die Ultras ein erhebliches Standing im Verein haben und regelmäßig die Chance haben, gewisse Entscheidungen zu ihren Gunsten zu legen. Beinahe passend dazu gibt es einige Gruppierungen, die ebenso Kontakt zur Mafia und den Untergrund haben, die ohnehin auch ihre Kontakte zu den Vereinen pflegen.
Irgendwann aber erreichte die ganze Bewegung einen so großen Fortschritt, der natürlich unpassend zum immer größeren Drang nach Sicherheit und Ordnung war und demnach in Form von Polizei ordentlich bekämpft wurde – man könnte dies mit Sicherheit schon als eine Art Kriegserklärung interpretieren. Der Staat und aufgrund des immensen Drucks auch die Vereine wollten Ultras aus den Stadien verbannen, hatten aber zu keinem Zeitpunkt die Ahnung, auf welche Gegenseite sie stoßen werden.
Die Repressionen seitens der Staatsmacht wurden größer, Auswärtsfans wurden teilweise spontan aus mysteriösen Gründen nicht ins Stadion gelassen und wieder nachhause geschickt – in einigen Fällen wurden diese bereits nicht mehr aus der eigenen Stadt freigelassen und ihren Grundrechten auf freie Bewegung beraubt – eine Praxis die auch im Jahr 2017 immer noch Gang und Gebe ist, allerdings in so gut wie allen europäischen Ländern, wozu auch Deutschland einen erheblichen Anteil beiträgt.
Im Jahr 2007 kam es dann zum großen Knall: im Februar kam es zum sizilianischen Derby zwischen Catania und Palermo und dabei auch zu heftigen Ausschreitungen zwischen beiden Fanlagern und natürlich auch der Polizei. In der Dämmerung warf ein damals 17jähriger Catania-Fan Antonio Speziale mit einem Waschbecken um sich, welcher laut Polizeibericht den Carabinieri Filippo Raciti traf und tödlich verletzte. Beweise für diesen Vorfall gibt es nicht, Speziale gab zwar zu das Waschbecken geworfen zu haben, jedoch gab es berechtigte Zweifel daran, dass Raciti davon getroffen wurde. Auf Überwachungskameras war dies nicht zu sehen, zudem hatte auch keiner der Carabinieris gesehen, wie das Waschbecken Raciti getroffen haben soll. Außerdem hatte Raciti als Offizier laut Bericht ca. eineinhalb Stunden nach dem angeblich tödlichen Wurf Befehle gegeben, welches dem Fall ein weiteres Fragezeichen aufwarf. Die Beweislage konnte nie geklärt werden, im Jahr 2012 wurde Antonio Speziale für 8 Jahre Knast verurteilt, woraufhin die mit Catania befreundeten Ultras aus Neapel Shirts mit dem Aufdruck „Speziale Libero“ druckten und diese mittlerweile tief in jedem Land verteilt und zu finden sind. Einer der Initiatoren dafür war Gennaro de Tommaso alias Genny a Carogna – Neapel-Capo und eine wichtige Person in dieser Story.
Den endgültigen Knall gab es dann wenige Monate darauf auf einem Autobahnrastplatz, als Fans von Lazio Rom und Juventus Turin zufällig aufeinander trafen und es zu verbalen Auseinandersetzungen kam – für die vor Ort gewesene Polizei damals Anlass genug einen Warnschuss in die Luft zu setzen, wobei sich im selben Lauf ein zweiter Schuss löste, der im Nachhinein Lazio-Fan Gabriele Sandri traf und tötete.
Als Folge des Jahres 2007 wurden in Italien die Repressionen so derartig verschärft, dass man den Ultras endgültig den Kampf erklären und sie aus dem Stadion verbannen wollte. Es wurden diverse Auswärtsfahrten verboten, der Einsatz von Trommeln und Megafonen war nicht mehr legal, zudem wurde die teilweise bis heute noch gültige „Tessera del Tifosi“ eingeführt, welche Pflicht wurde um die Auswärtsspiele besuchen und Dauerkarten kriegen zu können. Die Tessera gleicht einer Kreditkarte, weshalb die Tifosis von nun an gezwungen waren sich quasi blank auszuziehen und jede persönliche Datei weitergegeben werden musste. Einige Szenen taten dies um ihrem geliebten Verein weiterhin die Treue zu beweisen, andere Gruppen hingegen boykottieren daraufhin die Spiele.
Die Stadien in Italien leerten sich förmlich, die Stimmung glich meistens einer Beerdigung und die Vereine beschwerten sich zunehmend über mangelnde Einnahmen aufgrund der fehlenden Zuschauer. Den Höhepunkt dieser Entwicklung erreichte man in den letzten Jahren, als kaum einer mehr Interesse an einer Dauerkarte zeigte und teilweise Stadien mehr Groundhopper als Besucher hatten als eigene Fans – lediglich ab Liga 4; wo die Tessera keine Gültigkeit besaß – lebte die italienische Fußballkultur noch.
Jetzt im Jahr 2017 wurde die Tessera so gut wie komplett abgeschafft, viele Gruppen zeigten ihr Comeback im Stadion und die Atmosphäre gleicht wieder im Ansatz den besten Jahren aus den frühen 2000ern. Auch die Repressionen sind nicht mehr gleichzusetzen mit den Geschichten aus vergangenen Jahren, sodass Italien auf einem guten Weg ist.
Nach einem doch ziemlich langem Einblick in die Geschichte der letzten Jahre, wird allerdings noch ein kleiner Einblick in die Szene und Stadt Neapel gebraucht, um den Inhalt dieser Story verstehen zu können. Der SSC Neapel ist dem allgemeinen Fußballfan mittlerweile ein großer Begriff, da man Jahr für Jahr an der Champions League teilnehmen konnte und sich in Italien hinter Juventus Turin teilweise als zweitstärkste Macht formiert hat.
Dabei ist der SSC Neapel keinesfalls ein Modeverein – sondern ganz anders – eine Verbildlichung des Arbeitervolkes in Süditalien. Während es den Norditalienern seit Jahren rosig geht aufgrund vieler Touristen und Investoren, gibt es in Süditalien noch große Armut zu beklagen. Aus diesem Grund entwickelte sich zwischen beiden Landeshälften eine Art Konkurrenz, in diesem Fall übernimmt Neapel mehr oder weniger die Hauptstadt Süditaliens ein. Die Stadt, der Verein ist geprägt von harter; ehrlicher Arbeit – eben jene Werte werden trotz des großen Erfolgs der letzten Jahre auch noch beim SSC Napoli gelebt und geehrt.
Dementsprechend ist es auch kein Geheimnis, dass der Verein sehr nah an seinen Fans und Ultras ist und vor allem anders als in Deutschland, gibt es in Italien kaum eine nervige Stimme wenn es um Ultras geht – viel mehr versteht man sich in Italien als eine Einheit, die ihren Verein nach vorne bringen möchte.
Gerade auch aufgrund der angesprochenen Verbundenheit zwischen Ultras und Verein ist es daher kein Ding der Unmöglichkeit, dass gerade ein SSC Napoli einen Kurvengänger mit einem Posten im Verein ausstattet – ihr könnt euch mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ausrechnen, dass auch in Neapel die Szene ihren Gewissen Einfluss im Verein hat, welcher keinesfalls nur auf Negativem beruht.
Da ich selber zu fast 100% dieselbe Idee wie Chris hatte, ist mein Gastbeitrag mit ihm abgesprochen und spiegelt seinen Inhalt wieder. Zugegebenermaßen habe ich mich damals gegen eine Veröffentlichung solch einer Story unter meinem Namen entschieden, da man hier mit nur sehr viel Arbeit den Inhalt dieser Story verständlich übermitteln kann. Die Grundidee jedoch hat enorm viel Potenzial – Chris will diesen Weg gehen, also erwartet euch großes Material zu einem großen Verein.
Die dem Forum fehlende Weitsicht auf manche Themen wird also zunehmend auch in den nächsten Berichten eingebaut sein.
"Seit dem Tag, an dem ich geboren wurde, bin ich in dich verliebt...
Wo immer du warst, habe ich deinen Namen verteidigt
Eines Tages bist du plötzlich Tabellenführer
Und viele haben sich daran erinnert, dich zu lieben!" |
Lesematerial für Interessierte:
http://www.altravita.com/Italien/fussball
http://www.altravita.com/tod-des-lazio-rom-fans-gabriele-sandri.php
http://www.altravita.com/neue-details-zum-tod-des-polizisten-filippo-raciti.php
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