0
01 - Aller Anfang ist schwer
14. August 2015 ; St. Gallen, Schweiz
Schon mein ganzes Leben war ich auf mich allein gestellt gewesen und hatte selber entscheiden müssen. Auch jetzt, bei meinem nächsten wichtigen Schritt, war dies nichts Neues. Mein Name ist Ivàn Alvaro Valdés, ich bin chilenisch-schweizerischer Doppelbürger, und ich lebe in der Schweiz, in St. Gallen. Geboren wurde ich am 13. November 2017 in Santiago de Chile, ich bin also 17 Jahre alt. Meinen Vater habe ich seit 13 Jahren nicht mehr gesehen, meine Mutter ist vor 10 Jahren an den Folgen ihres Alkoholproblems gestorben. Man könnte mich also praktisch als Waisen bezeichnen. Aber ich möchte von ganz vorne beginnen...
St.Gallen-stadt.jpg
St. Gallen, Schweizer Stadt in Bodenseenähe und Heimat von Ivàn Alvaro Valdés
Es war im Jahr 1993, als meine Mutter nach Chile auswanderte, um dort meinen Vater Alvaro Valdés, den sie auf einer ihrer vielen Auslandreisen kennen gelernt hatte, zu heiraten. Einige Jahre danach, im November 1997, kam ich in Santiago, der chilenischen Hauptstadt zur Welt. Meine Eltern hatten bereits da allerdings einige Probleme miteinander, und so kam es schliesslich, dass ich mit meiner Mutter zusammen Ende des Jahres 2001 wieder zurück in die Schweiz, in ihre Heimatstadt St. Gallen reiste, und dort in die Schulpflicht eintrat.
Ich habe keine wirklichen Erinnerungen mehr an Chile, nur einige wenige an meinen Vater. Dennoch haben wir praktisch keinen Kontakt. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, liebe mein Land, meine Stadt und vor allem meinen Verein, den FC St. Gallen 1879. Als ich als Fünfjähriger in den Kindergarten eintrat, hatte meine Mutter, die bereits damals mit dem Trinken begann, mich für den Fussballklub angemeldet. Ich spielte zuerst beim kleinen Ortsklub, dem FC Fortuna St. Gallen ganz in der Nähe unserer kleinen, bescheidenen Wohnung, aber bereits zwei Jahre später trat ich in den Nachwuchs des FCSG ein, wo ich seither spiele.
In dieser Zeit begann meine Mutter, immer mehr zu trinken. Sie verlor ihre Arbeit, lebte von der Sozialhilfe und es ging ihr immer schlechter. Ihre Eltern waren schon früh verstorben, ich hatte sie nie gekannt. So war meine Mutter, der es so schlecht ging, für mich meine einzige Bezugsperson. Der Fussball war für mich immer eine rettender Ausweg, dort konnte ich alles vergessen um mich herum, und so verbrachte ich praktisch meine ganze frühe Kindheit mit meinen Kumpels auf dem Platz. Im Dezember 2005 schliesslich, kurz nach meinem 8. Geburtstag, verstarb meine Mutter an den Folgen ihres übermässigen Alkoholkonsums. Ich fand sie eines Abends, als ich vom Bolzplatz zurückkehrte, leblos in unserer Wohnung.
Nachdem ich einige Wochen in einer Klinik verbracht hatte, um den Schock zu verarbeiten, lebte ich seither in einem Wohnheim in der Stadt. Weiterhin hielt ich mich vor allem am Fussball und meinen Kumpels fest, schliesslich hatte ich sonst niemanden. Meine Mannschaft, aber auch der Verein war meine Familie. Ich besuchte jedes Spiel der Profis in der Fankurve, kannte alle Spieler, welchen ich auch manchmal im Training begegnete. Mein grösster Traum war es, einmal einer von ihnen zu sein und für meine Stadt auf dem Platz zu stehen. Inzwischen spiele ich in der U18-Mannschaft meines Vereins, wo ich Mannschaftskapitän bin. Ich spiele am liebsten im offensiven Mittelfeld, manchmal aber auch auf den Flügeln, und trage die Nummer 8 auf dem Rücken.
Vor ca. einem Monat habe ich mein altes Wohnheim verlassen, weil mein Verein eine neu gebaute Nachwuchs-Akademie eröffnet hat. Dort wohne ich seither mit 21 anderen Jugendspielern in einer Art Wohngemeinschaft. Wir sind in unmittelbarer Nähe des Trainingszentrums und des Stadions, der AFG Arena, wo meine grossen Idole spielten. In der Akademie bewohne ich ein Doppelzimmer mit meinem Kumpel Silvan Hefti, mit dem ich seit fast 10 Jahren zusammen spiele. Ich trainiere meistens zwei Mal am Tag, und nebenbei mache ich eine Büro-Ausbildung beim FC St. Gallen, damit ich auch einen guten Schulabschluss vorweisen kann. Kurz gesagt, mein Leben dreht sich nur um den FC St. Gallen 1879...
[/I]akademie.jpg
Ivàn Alvaro Valdés (r.) mit Freunden aus dem U18-Team vor seinem neuen Zuhause, der FCSG-Akademie in St. Gallen
Lesezeichen