„Also ich würde Jón Böðvarsson spielen lassen!“
Ich sah von meinem Laptop auf und drehte mich um – hinter mir stand niemand. Ich saß auf einem Sitzsack auf meiner Terrasse in meiner neuen Wohnung und brütete gerade über der Aufstellung für das Spiel am morgigen Samstag, genauer gesagt über der Stürmerfrage. Im Training waren Böðvarsson wie auch Beckmann gleichermaßen stark, in den Spielen fehlte aber bisher die Einbindung ins Mannschaftsgefüge. „Wie bitte?“ fragte ich leise, in der Hoffnung jetzt herausfinden zu können, wer da mit mir redete.
„Ich sagte, ich würde Böðvarsson spielen lassen!“ kam es lauter zurück. Ich linste vorsichtig über meinen Bildschirm hinaus und sah im Garten nebenan einen Mann stehen. Höchstens Anfang 30, eher Ende 20, dem Ring an seiner Hand zu urteilen verheiratet und der Kotze auf seiner Schulter nach Vater eines entweder sehr jungen oder sehr betrunkenen Kindes – oder das Kind war beides, es konnte ja nicht jeder ein guter Vater sein. Der Mann trug ein teuer aussehendes hellblaues Hemd, aus dessen Kragen ein kurzer Hals ragte, auf dem der Kopf des schlanken Mannes saß. Er trug keine Brille, sah aber dank seiner leicht geröteten Augen aus als würde er Kontaktlinsen tragen und er hatte die Haare passend zum Hemd leicht spießig und kurz geschnitten. Die Rasur war makellos, und auch seine Anzughose und auch Schuhe und Gürtel wirkten alles andere als billig.
„Ich kann mich nicht erinnern, sie gefragt zu haben!“ gab ich dennoch barsch zurück und lehnte mich wieder in meinen Sitzsack zurück.
„Naja, sie reden aber ziemlich laut mit sich selbst, da dachte ich ich antworte einfach mal. Sie sind neu hier, sind sie tatsächlich der Trainer von Hobro IK oder spielen sie bloß zu viele Computerspiele?“
Na toll, meine Identität war also schon nach zwei Tagen hier im Haus bekannt. Ich hatte gehofft, dass es bis dahin etwas länger dauern würde – immerhin war das hier ein kleiner dänischer Dorfclub und ich in der Trainerwelt ein sehr kleiner Name.
Meine beschauliche Terrasse
„Ja, ich bin es. Sigurður Mikaelsson, und sie sind wer, dass sie mich hier mit ihrem Fußballfachwissen überzeugen wollen?“ gab ich sarkastisch zurück.
„Niels Madsen. Doktor Niels Madsen, genau genommen. Ich bin Arzt am Sygehus Himmerland Hobro, und zufälligerweise glühender Hobro-Fan seit meiner Jugend.“ Der Mann trat zwei Schritte näher an die hüfthohe Hecke heran, die unsere Gärten trennte, und streckte mir zur Begrüßung die Hand entgegen. Ich hob nur die Hand und blieb sitzen, mein Bein tat so schon genug weh. Doktor also, das passte zum Erscheinungsbild.
„Und?“ gab ich nur zurück.
Der Mann nahm die Hand wieder herab und musterte mich. Ich spürte wie sein Blick an meinem Oberschenkel haften blieb, doch er sagte nichts dazu. „Wollen sie nicht rüberkommen zum Kaffee? Meine Frau würde sich sicher freuen und unsere Tochter wird sie sicher nicht anspucken.“
„Nein danke.“ gab ich zurück – auf solchen Klatsch und Tratsch stand ich überhaupt nicht.
„Sind sie sicher? Sowas ist immer gut, man lernt sich kennen... Vor allem wenn man gerade in ein anderes Land gezogen ist, dort keinen Arzt kennt und verschreibungspflichtige Medikamente nimmt. Was nehmen sie für ihr Bein, Morphin?“
„Oxycodon.“ gab ich stumpf zurück. „Meinetwegen, dann komme ich eben rüber zu ihnen.“ grummelte ich und stand auf.
„Na geht doch, seien sie mal nicht so. Und Sonntag kommen sie zu mir in die Praxis, dann werden sie mein Patient. Das spart ihnen einen haufen Papierkram. Im Gegenzug können sie mit mir ja ab und an mal über ihre Arbeit reden – sie werden sehen, ich kenn mich mit Fußball durchaus aus.“
„Na gut.“ beschloss ich, dem Mann doch eine Chance zu geben. Ich trat an die Hecke heran und reichte ihm die Hand, er schlug ein. „Also, dann überraschen sie mich mal – wieso sollte ich Böðvarsson und nicht Beckmann spielen lassen?“
„Ach, plötzlich doch?“ gab Niels Madsen glucksend zurück. „Ganz einfach: Ich habe in der Vorbereitung gut mitbekommen, dass sie auf schnelles Umschaltspiel setzen und Flexibilität in der Offensive. Und da passt ein Böðvarsson besser als so ein Strafraumstürmer wie Beckmann. Meine Laienhafte Meinung, aber ich denke nicht ganz falsch.“
Da hatte er im Prinzip recht, obwohl das doch arg stumpf gedacht war. Beckmann hatte eben andere Qualitäten: Er war robuster, im Luftzweikampf stärker und vor allen Dingen abgeklärter. Dennoch nickte ich einfach nur, denn insgesamt hatte ich Böðvarsson auch präferiert, und für einen musste ich mich am Ende ja doch entscheiden. Niels bedeutete mir auf sein Grundstück zu kommen, und ich tat wie geheißen und humpelte zur Vordertür, die mir der Arzt bereits aufhielt. Die Inneneinrichtung hier sah deutlich besser aus als bei mir, keinerlei Kartons standen im Weg und auch ansonsten war alles aufgeräumt. Seine Frau stand in der offenen Küche und schnitt einen Marmorkuchen, der dem Geruch nach frisch gebacken und gerade erst aus dem Ofen gekommen war. Die Frau des Mannes war groß, mindestens 1,75 Meter, schlank und durchaus hübsch. Sie hatte langes, dunkles Haar und war ebenfalls gut gekleidet, mit Bluse und passender Hose. Wie eine Ärztin sah sie eigentlich nicht aus, vermutlich arbeitete sie für die Stadt oder hatte irgendeinen anderen einschläfernden Bürojob. Ich sah mich im offenen Wohnraum um. Auf dem breiten Eichenholztisch standen schon drei Teller mit dazu passenden Tassen und Untertassen und sogar einem optisch darauf abgestimmten Milchkännchen bereit – anscheinend war meine Anwesenheit zum Essen von Vornherein geplant gewesen. Von diesem klischeehaften Anblick hob sich dagegen eins klar ab – in leuchtend rosanem Aufzug saß ein Mädchen von vielleicht zwei Jahren in einem Kleinkinderstuhl und nuckelte an einem Schnuller. Aus Erfahrung wusste ich, dass „Igitt, wächst das noch?“ kein sozial akzeptierter Kommentar zu Kleinkindern war, und so schwieg ich einfach und setzte mich an den Platz, der vom Kind am weitesten entfernt war.
Der Kuchen duftete ganz hervorragend
„Sigurður, das ist meine Frau Nele und das meine reizende Tochter Sophia – Nele, das ist Sigurður Mikaelsson, unser neuer Nachbar!“ stellte Niels uns einander vor. Ich nickte der Frau zur Begrüßung entgegen, sie winkte mir und kam dann mit dem Kuchen an den Tisch. Ich sah, dass sie Absatzschuhe trug – also war sie doch nicht so groß, vielleicht 1,65 oder 1,70 Meter. Ich schüttelte auch ihr zur Begrüßung die Hand, warf eine Tablette ein und ignorierte den leicht mißbilligenden Blick ihrerseits dazu. Das Essen an sich ging dann schneller und schmerzloser vorbei als ich dachte, und nach zwei Tassen billigem Maschinenkaffee und zwei Stück hervorragendem Kuchen ging ich keine Stunde später wieder nach hause. Ich hatte einen Termin am Sonntag bei „Dr. Madsen“, wo er mich nochmal untersuchen würde und von da an mein Arzt sein würde, was mir tatsächlich eine Menge organisatorischer Probleme ersparte. Seine Frau war wie ich herausfand tatsächlich in einem Bürojob tätig, allerdings in einem verdammt gut bezahlten: Die Frau war Bamkfilialleiterin für eine Filiale der Danske Bank in Hobro. Ich musste zugeben, dass mich die Familie durchaus ein wenig beeindruckte, wusste aber zeitgleich, dass ich mir so etwas nie vorstellen könnte. Ich ließ mich zwischen einem Haufen Umzugskartons auf meinen Sessel fallen und schaltete den Fernseher ein. Während ich so dasaß, den Laptop auf meinen Knien und das monotone Rauschen, das sich nunmal ergab, wenn man noch keinen Sender empfing im Ohr, döste ich langsam dahin. Ich schrieb meinem Co-Trainer Lars Justesen noch eine kurze Whatsapp-Nachricht, in dem ich ihm die endgültige Startaufstellung für den Saisonauftakt mitteilte (mit Jón Daði Böðvarsson im Sturmzentrum), und ging schlafen – ich musste schließlich morgen gut ausgeruht sein.
Quellen: Terrasse, Marmorkuchen
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